Mittwoch, 23. September 2015

Knapp vier Jahre nach meinem Erlebnis möchte ich darüber schreiben, wie ich das Leben heute sehe. 

Wir alle befinden uns in einer Evolution, die mit der Entstehung des uns bekannten Lebens begann und sich über Pflanzen und Tiere bis zum Menschen fortsetzte. Dabei erscheint es völlig unlogisch anzunehmen, dass damit eine Entwicklung abgeschlossen ist und wir damit die "Krone der Schöpfung" sind. Überall wird man konfrontiert mit den Unzulänglichkeiten von Menschen, angefangen bei einem selbst. Und über die Bedeutungslosigkeit einzelner Lebewesen bei Betrachtung der ganzen Welt habe ich ja bereits geschrieben. Unklar ist, ob wir auf der Erde seit jeher die einzigen Lebensformen sind, oder ob es noch weitere gab, gibt oder geben wird. Wissenschaftlich steht jedenfalls fest, dass die Erde in einer fernen Zukunft biologisch unbewohnbar sein wird. Ob wir es schaffen bis dahin außerhalb weiter zu existieren ist noch offen. Aber selbst für den Fall, dass das gelingen sollte, besagen gängige Theorien, dass das ganze Universum irgendwann erstarren oder (wieder) in sich zusammenfallen wird. Und was wird dann aus dem Leben?

Auf das Leben habe ich einen recht nüchternen, naturwissenschaftlichen Blick. Was unterscheidet uns schon grundlegend von Tieren oder ausgeklügelten Cyborgs oder Robotern? Sind wir nicht auch programmiert wie ein riesiger, komplexer Computer mit einem Betriebssystem und einem Lebenszyklus? Warum sollte uns die Tatsache, dass wir uns wahrnehmen und Gefühle empfinden zu etwas grundlegend anderem machen? Das will mir nicht einleuchten. Vielmehr denke ich, dass die Unterstellung der Existenz einer Art "Seele" oder "Geist" zum einen aus dem Unvermögen entsteht unser Leben besser zu erklären. Und zum anderen denke ich, dass solche Trugbilder durch ein Wunschdenken hervorgerufen werden, das uns ebenfalls einprogrammiert ist. Es lassen sich verschiedene Motive dafür finden, etwa um einen grundlegenden Antrieb zu haben oder zur Stabilisierung, damit wir nicht an unserer Bedeutungslosigkeit verzweifeln.

Was sind wir dann und was zeichnet uns aus? Das bekannte Zitat "Ich denke, also bin ich" möchte ich umformulieren zu "ich habe ein Bewusstsein, also existiert irgendetwas". Das hilft zwar noch nicht viel weiter, aber zumindest existiert nicht "nichts". Und zumindest existieren wir als ein Teil einer Welt. Ob diese tatsächlich so beschaffen ist wie wir denken sei mal dahin gestellt. Durch uns als Teil der Welt wird diese sich jedenfalls ihrer selbst bewusst, zumindest zu einem geringen Anteil. Wir nehmen uns und unsere Umwelt wahr und versuchen die Welt zu erklären, zu verändern und zu kontrollieren. Damit versucht die Welt aber durch uns sich selbst zu verändern und zu kontrollieren. Davon, dass das große Auswirkungen hat, sind wir zwar noch weit entfernt. Wenn man allerdings bedenkt, dass die Menschheit nur ein sehr kleiner Versuch unter ähnlichen sein könnte, dann kann dieser Aspekt relevant werden. Unklar ist dabei der Sinn und Zweck des Ganzen. Versucht die Welt nur selbst ihre Existenz zu sichern oder sich weiterzuentwickeln? Ergibt sich dadurch eine Parallelität oder gar Konvergenz von einem selbst zur ganzen Welt? Und gibt es noch als Gegenstück ein "Nichts", was das "Alles" bedrohen könnte?

Sonntag, 9. Juni 2013

Vorwort

Zielgruppe dieses Berichts sind insbesondere Personen, welche selbst Ähnliches erlebt haben oder sonstige Erfahrungen oder Kenntnisse im weiteren Zusammenhang besitzen. Durch meine Veröffentlichung möchte ich gedankliche Anregungen geben und hoffe auf einen konstruktiven Austausch. Dabei ist es für mich nicht wichtig wann ein Kontakt zustande kommt, ich beabsichtige das Thema mein Leben lang weiter zu verfolgen.

Ich habe versucht das Erlebte chronologisch und möglichst sachlich zu schildern. Dabei habe ich der Vollständigkeit wegen alles erwähnt, was in meiner Erinnerung haften geblieben ist, so dass auch irrelevante Details enthalten sind.
Da ich kein professioneller Texter bin, werden Logik- oder sprachliche Fehler enthalten oder einige Stellen unverständlich sein. Für entsprechende Hinweise bin ich jederzeit dankbar.
Ich behalte es mir vor den ursprünglichen Eintrag zu überarbeiten, insbesondere um Korrekturen und Verbesserungen einzuarbeiten.
Zuletzt möchte ich darauf hinweisen, dass ich für Rückmeldungen grundsätzlich sehr dankbar bin. Gerne nehme ich schriftlichen oder auf Wunsch auch persönlichen Kontakt auf. Ich habe diesen Beitrag jedoch unter einem Pseudonym veröffentlicht, damit man nicht über meine Person zufällig auf diesen Bericht stößt.


1) Vorgeschichte

1978 wurde ich geboren. Nach dem Abitur studierte ich Mathematik und erhielt 2005 das Diplom. Nun arbeite ich bei einem Software-Hersteller. In meiner Freizeit treibe ich gerne Sport und höre viel Musik. Ich liebe und achte die Natur und war bisher ein typisch westlich geprägter Agnostiker. Seit 5 Jahren lebe ich in einer glücklichen Fernbeziehung mit meiner Freundin. Im Alter von 33 Jahren ging es mir so gut wie nie zuvor.
Genau eine Woche vor dem Erlebnis, das mein Leben verändern sollte, lief ich trotz eines erheblichen Knieschadens einen Marathon und das in einer von mir nicht für möglich gehaltenen guten Zeit.
Am darauf folgenden Freitagabend fuhr ich, wie oft zuvor, mit dem Zug zu meiner Freundin. Während der Fahrt kam es im Zug zu starker Rauchentwicklung, so dass er auf freier Strecke angehalten und bei Nacht und Kälte evakuiert werden musste. Es bestand zu keinem Zeitpunkt konkrete Gefahr und es ereigneten sich keine größeren Zwischenfälle. Dennoch ging ich nachdenklicher als sonst in das Wochenende.
Am Samstagnachmittag ging ich zusammen mit meiner Freundin in der Innenstadt einkaufen und abends auf ein kleines Rock-Konzert. Dort betranken wir uns stark und hatten zunächst viel Spaß. Wir verpassten dadurch den letzten Bus und stritten auf dem Heimweg wegen Nichtigkeiten heftig miteinander.
Am Sonntag 06.11.2011 ging es meiner Freundin sehr schlecht. Ich selbst hatte leichte Kopfschmerzen, für einen Kater fielen sie allerdings recht schwach aus.

2) Erlebnis

Abends ging es uns besser und wir sahen uns auf der Couch den Film "Der Tod steht ihr gut" ("Death Becomes Her", USA, 1992) an. In der Schlussszene, kurz vor dem Abspann, wird der Zuschauer dazu angeregt darüber nachzudenken, ob man lieber als Untoter mit Verfallserscheinungen ewig leben oder lieber normal leben und sterben möchte. Um die Konsequenzen besser einschätzen zu können, versuchte ich mir vorzustellen, wie es ist wenn man tot ist. In diesem Augenblick überkam mich plötzlich eine unvorstellbare Panik. Ich versuchte durch irgendeinen Gedanken Halt zu finden, fand aber überraschenderweise überhaupt nichts. Alles was mir in den Sinn kam war Teil dieser Welt und somit im Tod absolut nutzlos. Dadurch wurde augenblicklich mein ganzes Leben entwertet und es blieb nur die absolute Leere zurück. Ich bäumte mich kurz und effektlos gegen die Gewissheit auf alles, was mir etwas bedeutete, einmal zu verlieren. Ich hatte das Empfinden in unendliches Nichts zu fallen. Da ich überhaupt keinen Halt mehr fand, kehrte meine vertraute Gefühlswelt nicht mehr ins Bewusstsein zurück. Ich spürte, dass etwas Wesentliches fehlte und hatte das Empfinden bereits jetzt alles verloren zu haben.

3) Reaktion

Meine Freundin bekam unmittelbar mit, dass mit mir etwas nicht stimmte. Während des Schocks sprang ich auf und konnte mich anschließend nicht mehr beruhigen. Ich sagte ihr zuerst nur, dass es mir nicht gut ginge, da ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. In Wirklichkeit stimmte gar nichts mehr. Da sie sich damit nicht zufrieden geben wollte und mir keine Ausrede einfiel, erzählte ich ihr von meinem Erlebnis. Im Grunde genommen war mir auf einmal alles völlig egal. Mir kam es auch völlig irrelevant vor ob ich lebte oder nicht. Um überhaupt irgendetwas zu tun, drängte ich darauf draußen bei Dunkelheit spazieren zu gehen, obwohl mir klar war, dass das nichts ändern würde. Überhaupt hatte ich den Eindruck, dass keine Entwicklung mehr stattfand und ich nicht mehr zur Normalität und zu meinem alten Leben zurückfinden würde. Das war allerdings genau das was ich nun wollte.
Während des Spaziergangs hatte ich auf einmal die Vorstellung zusammen mit meiner Freundin eine Familie zu haben, ein Gedanke, der mir zuvor eher unangenehm gewesen war. Ich dachte mir, dass das eigentlich sehr schön sein müsste, empfand aber paradoxerweise nichts dabei. Lediglich eine permanente Angst lastete weiter auf mir, die ich nicht mehr los wurde. Diese Angst stellte mir die Nackenhaare auf und löste Gänsehaut und kalten Schweiß aus. Realitätsbezogene Gefühle kannte ich auf einmal nicht mehr.

4) Alltag

Anschließend gingen wir zu Bett und ich fuhr am nächsten Morgen mit dem Zug zurück. Ich ging weiterhin zur Arbeit, da es für mich am einfachsten war einen möglichst normalen Alltag aufrecht zu erhalten. Für meinen apathischen Zustand gelang es mir erstaunlich gut rationale Leistung zu erbringen und Routinetätigkeiten durchzuführen. Vermutlich war das so, weil sonst eher störende Gefühle auf einmal keine Rolle mehr spielten. Konversationen fielen mir dagegen ziemlich schwer, da ich auf emotionaler Ebene nicht mehr richtig agieren konnte. Auch einfache emotionsbezogene Alltagsentscheidungen fielen mir sehr schwer und ich konnte sie nur treffen, indem ich aus meiner Erinnerung übertrug, wie ich früher in einer ähnlichen Situation entschieden hätte. Das betraf zum Beispiel die Wahl des Gerichts in der Kantine oder das Einkaufen im Supermarkt. Ich kam mir vor wie ein Roboter, der rein mechanisch funktioniert, aber keinen Sinn in seinem Handeln sieht.
Auch beim Laufen am ersten und beim Radfahren am zweiten Tag empfand ich nichts, obwohl sportliche Tätigkeiten für mich sonst emotional sehr intensive Erlebnisse waren. Auch hierbei war ich ziemlich leistungsfähig, verpasste es aber einer aufkommenden Infektion rechtzeitig entgegenzusteuern.

5) Krankheit

Ich hatte den Eindruck keine Abwehrkräfte mehr zu besitzen, so als ob sich mein Körper nicht mehr wehren würde. Vermutlich nahm ich deutlich an Gewicht ab, obwohl ich mich zwang zu essen. Zum einen verspürte ich keinen Hunger und Appetit mehr und zum anderen hatte ich andauernd das Gefühl eines zugeschnürten Magens. Wenn ich in den Spiegel sah merkte ich, dass ich sehr bleich war und viel schlimmer noch war die Tatsache, dass ich mich selbst nicht mehr erkannte. Ich hatte das Gefühl eine Leiche anzusehen und vermied es fortan möglichst in den Spiegel zu schauen.
Ob mein Zustand die Infektion begünstigte oder umgekehrt ein Frühstadium der Infektion meinen Zustand mit verursacht hatte, konnte ich nicht beurteilen. Vielleicht war sie nur die Folge des unvorsichtigen Verhaltens, das durch den Empfindungsmangel und den daraus folgenden Fehleinschätzungen hervorgerufen wurde. Möglicherweise war ich aber ernsthaft erkrankt oder die Infektion hatte mein Gehirn mit betroffen.
Auch das häufige Herzrasen kombiniert mit Adrenalinschüben, was von Beginn an häufig auftrat, konnte ich mir in ursächlichem Zusammenhang mit meinem Zustand vorstellen. Vielleicht hatte ich sogar einen Herzinfarkt gehabt, familiär vorbelastet war ich zumindest.
Eine weitere Möglichkeit bestand darin, dass mein eigener Tod unmittelbar bevorstand, was mir rational noch nicht bewusst, meinem Unterbewusstsein jedoch schon bekannt war und sich derart auswirkte.

6) Psyche

Allein kam ich in der Ursachenforschung nicht weiter und suchte daher am dritten Tag im Internet nach Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Tod. Als erstes suchte ich nach dem Stichwort Nahtoderfahrung und landete bei dem zugehörigen Artikel in Wikipedia. Das dort Beschriebene wich jedoch erheblich von meinem Erlebnis ab, insbesondere die überwiegend positiven Erfahrungen konnte ich nicht mit dem von mir erlebten reinen Horror vereinbaren. Auch die vielen Referenzen in dem Artikel führten mich zunächst zu keinem Begriff, den ich mit meinem Zustand in Zusammenhang bringen konnte. Dennoch war ich zuversichtlich etwas Brauchbares im Internet zu finden und landete schließlich bei dem Begriff Depersonalisierung bzw. Depersonalisation. Hierbei handelt es sich um eine dissoziative psychische Störung, deren Symptomatik ziemlich exakt der meinen entsprach. Und je mehr ich ahnte, dass ich meinen Zustand einer psychischen Reaktion zu verdanken hatte, desto mehr kehrten meine Empfindungen zurück, jedoch bei weitem nicht vollständig. Auch mein kurzzeitiges Erinnerungsvermögen verbesserte sich wieder. Von den drei vorangehenden Tagen konnte ich mich, wie ich fest stellte, im Nachhinein nur noch an zwei erinnern bzw. zwei unterscheiden. Und das war vielleicht auch nur deshalb möglich, weil ich am ersten Tag eine Zugfahrt hatte und an den beiden darauf folgenden nicht.

7) Therapie

Am darauf folgenden, vierten Tag rief ich eine Psychotherapeutin an, die ich von einer bereits hinter mir liegenden Verhaltenstherapie her kannte. Glücklicherweise konnte sie mir noch am Abend desselben Tages einen kurzfristigen Notfall-Termin anbieten, was ich dankbar annahm. Dort gingen wir von einer dissoziativen Störung oder einem Schock aus und suchten gemeinsam nach der Ursache. Klar war, dass die Vorstellung tot zu sein diesen schrecklichen Zustand ausgelöst hatte, die Frage war aber warum in diesem Augenblick. In dem auslösenden Moment war ich nämlich auf keinen mir wirklich neuen Gedanken gekommen. Meine Therapeutin vermutete, dass es einen Zusammenhang damit geben könnte, dass ich einmal als kleines Kind vor dem Einschlafen ebenfalls eine Angstattacke bei derselben Vorstellung gehabt hatte. Damals konnte ich den Gedanken jedoch nach kurzer Zeit erfolgreich verdrängen und er hatte mich seitdem nie wieder belästigt. Möglicherweise schlummerte diese Angst als Trauma unbewusst in mir weiter und hatte sich in diesem ähnlichen Moment unter emotional wechselhaften Bedingungen ihren Weg nach draußen gebahnt. Diesmal schlug sie jedoch wesentlich heftiger zu und mir schien Verdrängung bei diesem intensiven Erlebnis weder möglich noch sinnvoll zu sein.
Ich fragte mich später, ob es einen ursächlichen Zusammenhang mit den zuvor behandelten Depressionen geben könnte, hielt das aber für unwahrscheinlich, da ich seit geraumer Zeit fast gar nicht mehr unter Depressionen gelitten hatte und nun froh gewesen wäre überhaupt zu Depressionen fähig zu sein.

8) Auslöser

Die Auseinandersetzung mit dem Auslöser verursachte jedes Mal erneute Panik und verstärkte die Spaltung, zwar nicht mehr mit der ursprünglichen Stärke, aber sie verging eben auch nicht ganz. Egal was ich machte, der Tod würde mit Sicherheit in nicht allzu ferner Zeit meinem Leben ein allumfassendes und unwiderrufliches Ende bereiten. Um dem Auslöser dennoch irgendwie zu entkommen, bestand somit die Notwendigkeit den Tod nicht mehr als etwas Negatives zu betrachten. Den Tod als positiv zu bewerten war mir jedoch ebenfalls nicht möglich, dazu fehlten mir sowohl die Überzeugung als auch die Hoffnung. Somit blieb nur noch die Möglichkeit den Tod neutral zu betrachten, was mir extrem schwer fiel. Als zunächst einziger beruhigender Gedanke fiel mir dazu ein, dass ich vor meiner Geburt praktisch ebenfalls schon unendlich lange tot gewesen war und mich das wiederum überhaupt nicht störte.
Darüber hinaus erkannte ich, dass es eigentlich unmöglich ist sich vorzustellen tot zu sein. Denn sich bewusst in etwas hineinzuversetzen setzt zum einen Leben voraus. Und zum anderen macht es keinen Sinn sich etwas außerhalb unserer Welt vorzustellen, da wir nicht das geringste Wissen darüber haben, ob es das gibt oder was es ist. Insofern hatte ich mich durch eine unmögliche Vorstellung in eine existenzielle Krise gestürzt.

9) Weltbild

Um aktiv weiter leben zu können und nicht durch das Bewusstsein um die eigene Irrelevanz erdrückt zu werden, musste ich mein Weltbild korrigieren. Im Endeffekt durfte nicht mehr meine weltliche Existenz im absoluten Mittelpunkt stehen und alles andere nur Beiwerk sein. Daher versuchte ich mich fortan nicht mehr nur mit mir selbst, sondern auch über mich hinaus zu identifizieren. Überhaupt etwas Beständiges zu finden ist schon sehr schwer. Bekanntlich ist alles Leben auf der Erde nach astronomisch gesehen sehr kurzer Zeit seit seiner Entstehung dem Untergang geweiht. Somit scheidet eine Erweiterung auf uns bekanntes Leben aus. Da man des Weiteren davon ausgehen muss, dass unser Universum kurz nach dem Urknall extrem winzig und ohne Leben war, kann man von einer theoretischen, schon immer da gewesenen Art Schlüssel zum Leben ausgehen oder davon, dass das, was Leben ausmacht, von außerhalb kommt. Dass ich aus dem absoluten Nichts kam und wieder dorthin gehen werde, kann ich mir nicht vorstellen und widerspricht auch aller bekannten Physik. Ich bin überzeugt davon, dass ich und diese Welt grundsätzlich existieren und dass ich perspektivisch weiter von meiner eigenen zentralen Position im Leben ausgehen muss. Die nächsthöhere Ebene, die für mich für einen absoluten Wert in Frage kommt, ist die große und ganze Welt selbst mit allem darin.


10) Untersuchung

Für den achten Tag hatte ich sicherheitshalber einen Termin bei meiner Hausärztin vereinbart. Zum einen wollte ich mich auf mögliche körperliche Ursachen für meinen Zustand untersuchen lassen und zum anderen wegen der andauernden Infektion. Die Hausärztin schloss die Infektion als Auslöser für meinen Zustand praktisch aus, zumal nach einer psychischen Auseinandersetzung bereits eine merkliche Besserung eingetreten war. Sicherheitshalber veranlasste sie eine Blutuntersuchung, die jedoch ohne Befund blieb. Zusätzlich riet sie mir einen Psychiater aufzusuchen, was ich auf Grund der mehrmonatigen Wartezeiten bei meinen darauf folgenden Terminanfragen jedoch unterlies. Nach allem, was ich bis zu diesem Zeitpunkt erlebt hatte, begnügte ich mich damit, dass mein andauernder Zustand durch eine psychische Reaktion verursacht wurde und ich mich bezüglich der Ursache mit dem Thema Tod individuell auseinanderzusetzen hatte. Die Infektion hielt allerdings mit zyklischem Verlauf vier Monate lang an. Wie sich erst spät herausstellte, handelte es sich dabei um eine Reaktivierung des Epstein-Barr-Virus.


11) Rückkehr

Am elften Tag, genauer nach etwa 11 Tagen und 4 Stunden, geschah das von mir kaum mehr für möglich gehaltene. Gegen Mitternacht, kurz vor dem Einschlafen, erlangte ich, begleitet von einem erneuten heftigen Schock, wieder meine vollständige Gefühlswelt zurück. Es war, als ob ich aus einer Zwischenwelt wieder in diese Welt ausgespuckt worden wäre oder als ob ich nach einem enorm langen Fall wieder auf der Erde aufgeschlagen wäre. Ich hatte sozusagen eine zweite Chance zum Leben bekommen. Dennoch war es nicht mehr wie vorher und ich empfand trotz großer Freude und Erleichterung keine Euphorie. Zu schaffen machte mir nach wie vor das aktive Bewusstsein um die eigene Endlichkeit als Konsequenz aus der intensiven Auseinandersetzung damit. Die Rückkehr der Gefühle hielt zwar meiner Erwartung gemäß grundsätzlich an, dennoch kehrte insbesondere anfangs noch häufig die Angst zurück. Um die Rückschläge einzudämmen hatte ich mich weiterhin ernsthaft mit meiner Existenz auseinanderzusetzen. Um einen kompletten Rückfall zu vermeiden unterlies ich es fortan mich in die Vorstellung tot zu sein erneut hineinzuversetzen.

12) Veränderungen

Insgesamt nahm ich bedeutende Veränderungen an mir wahr. Ab dem dritten Tag hatte ich eine Art zweite Stufe erreicht und war seitdem geprägt von großer Angst vor meinem theoretisch jederzeit möglichen Tod und einem Verlangen nach sozialem Umgang. Ich wollte unbedingt möglichst viele Spuren in dieser Welt hinterlassen, wenn ich schon nicht bleiben konnte. Zudem wollte ich möglichst viel für andere tun, mit denen ich mich nun verstärkt identifizierte. Ab dem elften Tag hatte ich eine Art dritte Stufe erreicht und diese Gefühle relativierten sich zwar etwas, blieben aber wesentlich stärker bestehen als sie früher gewesen waren. Ansonsten rückten wieder Werte, wie ich sie vor dem Erlebnis gehabt hatte, in den Vordergrund. Und trotz der mittlerweile erheblichen Überarbeitung von Lebenseinstellung und Weltbild fehlte noch etwas. Insbesondere machte mir der Konflikt zu schaffen, dass ich es zwar einerseits für richtig hielt weiterhin der Natur und meinen Instinkten und speziell dem Lebenswillen zu folgen, aber andererseits die Notwendigkeit sah mit einer neutralen Einstellung in den Tod zu gehen.

13) Glaube

Es schien mir am geeignetsten mit einem Geistlichen darüber zu sprechen. Bereits vor dem elften Tag hatte ich dazu einen Gesprächstermin mit einem Pfarrer aus meiner Gemeinde für den 15. Tag vereinbart. Er war aufgeschlossen und hörte geduldig zu, als ich ihm eine Kurzversion des Erlebten schilderte, möglicherweise hörte er öfters solche Geschichten. Anfangs war ich etwas aufgeregt, da ich keine großen Erfahrungen mit Religionen hatte und nicht wusste, ob es überhaupt angemessen war einen Geistlichen mit meinem Erlebnis zu konfrontieren. Ich beruhigte mich aber schnell als ich merkte, dass ich ernst genommen wurde und Religionen tatsächlich da waren um auf Fragen wie meine Antworten zu finden. Erstmals nahm ich Religionen als etwas Wunderbares und sehr Wertvolles wahr.
Im Grunde genommen bekräftigte das Gespräch meine Annahme, dass man das Leben lieben sollte, den Tod aber nicht fürchten. Der Tod ist mächtiger als das Leben, da er bleibt, dessen sollten wir uns bewusst sein und mit dieser Erkenntnis angemessen umgehen. Das Leben ist nur ein vorübergehender Zustand und somit ist für uns auch diese Welt vorübergehend. Und da wir nicht wissen, wann wir diese Welt verlassen werden, sollten wir jederzeit dafür bereit sein, sonst machen wir uns den Abschied unnötig schwer. Unsere Existenz an sich ist meiner Überzeugung nach die einzige Verbindung zwischen dem Diesseits und einem wie auch immer gearteten Jenseits. Und das ist der Grund, weshalb wir zu Lebzeiten nie etwas Konkretes über das Jenseits erfahren werden.

14) Lehren

Im Nachhinein denke ich, dass oft der eigene Tod allzu gerne und erfolgreich verdrängt wird. Ich bin darüber hinaus davon überzeugt, dass unsere Psyche eine Art natürliche Sperre enthält, die verhindert, dass uns die Irrelevanz des eigenen Lebens allzu deutlich bewusst wird. Diese Sperre wurde bei mir zumindest teilweise vorübergehend außer Kraft gesetzt, so dass ich mich wohl oder übel mit diesem harten Thema auseinandersetzen musste. Freiwillig hätte ich das nicht getan.
Mir wurde auch bewusst welche entscheidende Rolle unseren Gefühlen zukommt, da deren Abwesenheit das Leben vollkommen wertlos macht. Die Abwesenheit wirkt meiner Erfahrung nach viel stärker als beispielsweise Depressionen. Diese konnten mir zwar Gefühle als persönlich nicht zugänglich verwehren, deren grundsätzliche Existenz aber nicht in Frage stellen.
Unabhängig davon bin ich nach wie vor überzeugt davon, dass wir die besten und sinnvollsten Werte durch unsere Instinkte und unsere Intuition erhalten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Sinn macht sich in irgendeiner Form unserer grundsätzlichen Natur zu widersetzen oder zu entziehen zu versuchen.

15) Altern

Bezogen auf mein eigenes Leben fiel mir später auf, dass ich zuvor immer sehr mit mir selbst beschäftigt war, was tendenziell eher auf jüngere Menschen zutrifft. Nun war ich zwar weit aus dem Jugendalter heraus, vielleicht war diese harte Erfahrung aber für mich persönlich ein abschließender Schritt ins Erwachsenwerden. Oder das Älterwerden an sich hat letztendlich eine Korrektur meines Weltbilds erfordert. Mir wurde auch erstmals die starke Symmetrie zwischen der Geburt und des Heranwachsens einerseits und des Älterwerdens und des Sterbens andererseits bewusst. Dabei fällt auf, dass der Jugend eine sehr positive und dem Alter eine sehr negative Rolle in unserer Gesellschaft zugesprochen wird, was sicherlich auch auf die allgemeine Verdrängung des eigenen Schicksals zurückzuführen ist. Dabei ist das Sterben neben der Geburt das wichtigste und einzig sichere Ereignis in unserem Leben überhaupt. Und der Tod ist daher das Natürlichste was uns widerfährt.

16) Vergleich

Verglichen mit früher bewerte ich Dinge und Ereignisse in meinem Leben jetzt neu und anders. So bin ich zwar nicht mehr wie früher in der Lage Momente grenzenloser Euphorie zu verspüren, andererseits können mich Leiden aber auch nicht mehr derart am Boden zerstören, wie es früher der Fall gewesen ist. Wenn man das Sterben akzeptiert, dann verschafft es einem eine gewisse Erleichterung, das Leben nicht mehr als Kampf gegen das Schicksal oder den Tod betrachten zu müssen. Diese Akzeptanz fällt mir noch schwer, da sich mein altes Weltbild über 33 Jahre lang gefestigt hatte und man das nicht eben mal so einfach austauschen kann.
Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich für das Erlebte dankbar sein soll, da es mich einerseits von großen Irrtümern befreit hat, ich aber andererseits ohne diese grausame Erfahrung möglicherweise viel glücklicher gewesen wäre.
Und was bleibt ist die altbekannte Frage nach dem Sinn: Warum gibt es mich und diese Welt überhaupt?